Okay, was Schätzen so generell ist, sollte klar sein. Hier geht es vielmehr um die Frage, was Schätzen im Kontext von Entwicklungsarbeit ist. Und warum es so wichtig ist. Wobei … Ist es das?
Wenn Entwickler oder Wissensarbeiter von Schätzen sprechen, ist damit eine Abschätzung der zu erledigenden Arbeit gemeint. Und allzu häufig wird der Fehler gemacht, eine Abschätzung in Zeiteinheiten vorzunehmen. Der Wunsch danach ist verständlich, möchten diverse Personen doch regelmäßig wissen, wie lange eine Arbeit dauern wird. Um dann zu entscheiden, ob es sich lohnt, Geld in diese Arbeit zu investieren. Alleine – diese Schätzungen sind meistens so viel wert wie ein ausgelutschter Joghurtbecher.
Um das zu verstehen, müssen wir uns den Vorgang des Schätzens an sich anschauen. Wie wir ja schon festgestellt haben, lässt sich bei komplexen Tätigkeiten im Vorfeld überhaupt nicht abschätzen, wieviel nötiges Wissen wir tatsächlich schon haben, nicht haben oder erst im Laufe der Arbeit als wichtig entdecken werden.
Hierzu eine kleine Frage: Wie lange dauert es, das folgende Quadrat auszumalen?
Richtig. Schwer zu sagen. Wie groß wird es, wenn man es ausdruckt? Was für einen Stift habe ich? Wie schnell kann ich malen? Stellt sich der Untergrund als ungeeignet für den Stift heraus? Muss ich erst die Außenlinie nachziehen, oder ist es vielleicht sogar nötig, das Quadrat zu kopieren? Was, wenn der Stift unterwegs leer wird? Es sind so viele Dinge, die unbekannt sind, bis ich anfange, das Quadrat tatsächlich auszumalen.
Noch eine kleine Frage: Bei welchem der folgenden Quadrate dauert es länger, die Innenfläche auszumalen?
Die Antwort ist sofort da. Wir tun uns als Menschen schwer damit, Dinge mit unbekannten Variablen vorher abzuschätzen, insbesondere, wenn sich die Variablen im Laufe der Arbeit noch verändern können. Aber wir sind sehr gut darin, Dinge in Relation zueinander zu setzen. Das gilt nicht nur für das Ausmalen von Quadraten, sondern auch für die Komplexität von Wissensarbeit. Und je mehr Erfahrung wir haben, umso besser können wir Dinge in Relation setzen. Aber keine Erfahrung dieser Welt wird es uns ermöglichen, Bearbeitungszeiten komplexer Aufgaben präzise im Vorhinein abzuschätzen.
Wenn wir also in der Wissensarbeit von Schätzen oder Schätzungen sprechen, dann müssen wir immer sicherstellen, dass wir Dinge in Relation zueinander setzen. Dass wir nicht den Aufwand oder Zeit schätzen, sondern Komplexität der Aufgaben im Verhältnis zueinander.
Und wir müssen zudem verhindern, die Komplexität später in absolute Zeiten umrechnen zu wollen. Was wir tun können, ist anhand der Komplexität und der historischen Bearbeitungszeit von Aufgaben mit der gleichen Komplexität eine grobe Einschätzung geben, in welchem Zeitraum wir denn fertig werden könnten. Sehr viele Konjunktive. Aber immer eine mehr oder weniger große Unsicherheit.
Also, nochmal zusammengefasst: Wenn wir in der Wissensarbeit schätzen, schätzen wir immer Komplexität. Wir schätzen nie absolute Zeiten; und wir schätzen auch keinen Aufwand, denn der beinhaltet immer eine zeitliche Komponente.
Ist Schätzen jetzt wichtig? Manche sagen so, andere sagen so. Häufig ist es so, dass (stabile) Teams mit der Zeit besser darin werden, Aufgaben in Teilaufgaben zu zerlegen, die trotzdem Wert liefern. Diese kleineren Aufgaben nehmen mit der Zeit eine Komplexität in einer ähnlichen Größenordnung wie vorherige Aufgaben an. Nicht immer, aber doch in vielen Fällen, mal früher, mal später.
Ist ein Team nun so weit, dass die Aufgaben alle ungefähr gleich komplex sind, muss es auch nicht mehr jedesmal schätzen, sondern kann dazu übergehen, die Anzahl der Aufgaben als Indikator dafür zu nehmen, was es in einem zukünftigen Betrachtungszeitraum schaffen kann. Oder überhaupt auf eine Abschätzung der fertigen Aufgaben zu einem bestimmten Zeitpunkt verzichten und sich mehr auf die wahrscheinlichste Durchlaufzeit (oder noch besser: die Variationsbreite von Durchlaufzeiten) konzentrieren.
Wie schaut es bei euch aus? Schätzt ihr eure komplexe Arbeit? Falls ja, versucht ihr immer noch Zeiten dran zu kleben, oder seid ihr schon bei Komplexität? Benutzt ihr Punkte oder T-Shirt-Größen? Oder was ganz Exotisches? Schreibt es gerne in die Kommentare!
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